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EIN KINOBESUCH AN KAFKAS SEITE: DER ANDERE (1913)

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Wir zeigten einen Stummfilm, den Kafka seinerzeit im Kino sah: DER ANDERE (1913)  mit dem legendären Albert Bassermann in der Hauptrolle eines Staatsanwalts, der nach einem Unfall eine Metamorphose zum Verbrecher durchmacht.

NEUVERTONUNG

Leo Solter vertonte den Stummfilm neu; gleichzeitig „synchronisierten“ wir (Miriam Sachs, Leo Solter undRoland Bonjour, der auch in DIE KINOGÄNGE DES FRANZ K. Kafka spielt) live bei der Vorstellung die Geschichte.

Voranging dem 50minütigen Film, der als einer der ersten „Autorenfilme“ gelten kann, eine theatrale Collage aus Briefen und Tagebuchnotaten, Trickfilmschnippsel und Gedanken zu Kafkas Kinoleidenschaft.

gefördert durch das Kulturamt Köpenick-Treptow

FILM RISS THEATER entwickelte sich aus der Theater-Zusammenarbeit von Miriam Sachs mit Schauspielern, Musikern und anderen Künstlern und seit einigen Jahren auch Wissenschaftlern. Miriam Sachs ist gelernte Schauspielerin, ihre Arbeit entwickelte sich jedoch im Lauf der Zeit zu mehr: sie ist Verfasserin mehrerer Romane und Illustratorin/Trickfilmerin. Das Regieführen passierte eher, weil es ihr gemeinsam mit ihren Schauspielkollgen Jürgen Ruoff und anderen darum ging Klassische Texte konkret und greifbar zu machen und mit all den eigenen Bildern und Assoziationen zu verknüpfen, die man als Schauspieler(in) meist für sich behalten muss.

drei

Jürgen Ruoff, Klaus Hänscheid, Roland Bonjour

Ich habe lange meine Liebe zum Kino  (aufgewachsen bin ich in einem Haus voller Kinogeschichte, alten Projektoren und Filmplakaten an den Wänden, einem Schneideraum im Keller, aus dem seltsame Geräusche kamen (Tonspuren spielten sich vorwärts und rückwärts ab, sollten dem Bild angepasst werden und klangen je nach Abspieltempo wie die Dialoge von Zeichentrickmäusen oder Ungeheuern aus der Tiefe. Wenn man eintrat in diese Unterwelt, ringelten sich 35-mm-Flimstreifen sich am Boden wie Schlangen.

Als ich Hanns Zischlers Buch KAFKA GEHT INS KINO las, wohnte ich noch in diesem Reich, fing aber gerade mit dem Literaturwissenschaftsstudium an und war fasziniert von dem Gedanken, dass der schwierige Asket Kafka (fälschlicherweise hatte ich mir immer vorgestellt, er säße in einem kalten unbeheizten Zimmer und schriebe sich die Seele aus dem Leib und die Tuberkulose hinein.) auch ein leidenschaftlicher Kinogänger war. Besonders beeindruckte mich, dass er ganz einfach als Zuschauer „im Kinema“ saß. Keine Ambition hatte, das Kino als potentielles Arbeitsfeld zu entdecken. Z.B. als Drehbuchautor, als Geschichten-erfinder.  Im Gegenteil,  er sah die Filme und war sprachlos, überwältigt und sinnentleert („maßlose Unterhaltung!“). Ich dachte damals, wie toll es doch sein müsste, diesen Kafka ins Kino zu begleiten. Ihm über die Schulter zu gucken und ihm dadurch vielleicht näher zu kommen. Es bleib ein Gedankenexperiment. Abgesehen davon nabelte ich mich vom Elternhaus ab, ging nach Berlin und überhaupt … – schien mir Theater dann die hehrere Kunst zu sein. Ich blendete das Kino, den Film aus. Schauspiel, die Augenblicklichkeit des Theaters schien mir wichtiger und kostbarer (weil vergänglicher).“

 Miriam Sachs

Allerdings zieht sich die Liebe zu den großen Klassikern, die immer so weit geht, dass wir diese sehr greifbar und konkret machen wollen, durch unsere Arbeit. Wir begannen als ENSEMBLE PUPPET-HOLDING, Stücke wie HAMLET und KÄTHCHEN VON HEILBRONN mit Händen und Füßen, Puppen und Menschen, zuweilen auch Haushaltsgeräten im Wechsel zu spielen und so den großartigen Texten eine Alltagspoetischen Minimalismus mitzugeben. Im Laufe der Zeit, besonders durch die Zusammenarbeit mit der Neuköllner Oper wurde die Arbeit mit Filmelementen immer wichtiger und schien die Puppen ein wenig aus unseren Stücken zu verdrängen. Im Grunde ist der Umgang mit Objekten, die interaktiv in die Inszenierung integriert werden nichts anderes als Trick-Collage. Immer noch geht es um Klassiker, die Grenzen zwischen den Genres sind fließend oder sogar gewollt brüchig. Besonders durch Ihre Arbeiten im Kleistjahr 2011, als wir durch eine Förderung der Bundeskulturstiftung eine inter-disziplinäre Veranstaltungsreihe („NEUNMALKLEIST“) kuratierten, entstanden Zusammenarbeiten mit Wissenschaftlern, besonders aus dem Bereich der Psychiatrie.

Unsere Inszenierungen wurden Laborabende, die zwar weitgehend inszeniert waren, viele theatersinnliche Elemente wie Live-Musik enthielten, sehr präzise in Bild Ton und Spiel ausgetüfftelt waren, aber an einem bestimmten Punkt plötzlich das Format wechselten und Gäste aus der Wissenschaft in die Inszenierung versetzten, ins Gespräch verwickelten und ins Bühnengeschehen.  Hier entstand etwas was präzise Inszenierung mit Improvisation verband. Eingespielte Theatralik vor der Routine bewahrte und lebendig erhielt.

Die Idee, dass Theater nicht bedeuten muss die 1001. Version einer Geschichte zu zeigen, sondern: eine Lesart anzubieten, der noch am selben Abende eine weitere ganz andere hinzugefügt wird, ist uns wichtig. So ist jeder Abend eine neue Forschungsreise.  Das literarische Material wird aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Man sieht es als unvoreingenommener Zuschauer ohne Vorkenntnis (immer noch im Sinne der Lust an „maßloser Unterhaltung“), als Spieler, der mal assoziativ seine persönlichen Bilder zum alten Text dazugibt, mal als forschender Laborant. So wird man in einen fremden Theaterkosmos geführt, der zuweilen Versatzstücke enthält, die jeder kennt, der zeitlos ist, weil Fragmente und Assoziationen jenseits einer bestimmten Epoche in ihm auftauchen und wieder verschwinden – so wie die realen Gäste aus einer anderen Welt wie „echte“ Psychiater, die auf ihre eigene Weise vor dem Rätsel der Kleistschen oder Kafkaschen Figueren stehen. Oder der antiken Mythologie: Den antiken Helden und Kriegsheimkehrer Odysseus hatten wir beispielsweise  auf Posttraumatische Belastungsstörung untersuchen zu lassen von Prof. Hinderk M. Emrich (Psychiater und Philosoph), Prof. Dieter Naber (Psychiater), Dr. Franziska Henningsen (Psychoanalytikerin) und Dr. Wolf Kemper (Soziologe).

FILM RISS THEATER versteht sich nicht nur als Schnittstelle zwischen Theater und Film, sondern interessiertt sich im wörtlichsten Sinne für Stoffe, die von psychischen Disfunktionen handeln. Ob es die Figuren Kleists sind, die mitunter ihre hellsten Momente im Schlaf zu haben scheinen, im Nervenfieber Oratorien dirigieren, sich im Traum verloben, im Halbschlaf verlieben, oder in der Ohnmacht geschwängert werden, oder sich nicht mehr daran erinnern können, ihren Geliebten versehentlich aufgegessen zu haben –

oder ob es die Ideenwelt Franz Kafkas ist, die zuweilen albtraumhaft scheint, aber doch von einer ganz klaren Liebe zum Leben und Menschlichkeit geprägt ist.

„Gerade unsere Arbeit zu Kafka führte mich zurück zur Liebe zum Kino, denn nicht nur die leidenschaftlichen Kinobesuche Kafkas, auch sein filmischer Blick, seine perspektivische Erzählweise machen ihn zu einem Pionier des Kinemas, wenn auch nicht auf Zelloloid, so vielleicht doch auf einer ganz anderen Ebene.“

So haben wir die beiden Protagonisten Richard und Samuel, die alter Egos Franz Kafkas und Max Brods auf Reisen geschickt. Sie sitzen im Zug von Prag nach Paris, mit vielen Umsteigemöglichkeiten in andere Regionen: werke Kafkas wie IN DER STRAFKOLONIE, oder ganz einfach in den Traum (und lange Zugfahrten eigenen sich wunderbar fürs In-Den-Schlaf-Fallen; selbst der unter Schlaflosigkeit leidende Kafka macht sich bei uns breit auf den Postern der Eisenbahn), der bei Kafka immer eine sehr reale Sache ist. Kein privater Moment des Abtauchens in die eigene innere Welt, sondern oft ein Zustand, in dem die Welt mit hineinbricht und Innen und Außen zu eins macht. Mögen Leute wie Herr K. aus dem PROZESS das Gefühl eines Filmrisses haben, wenn sie plötzlich aufwachen und aus dem Bett heraus verhaftet werden, weil  sie einer Straftat angezeigt werden, die nicht zu fassen ist, oder das Gefühl in einem weiteren Albtraum herumzuirren – es ist jedoch immer eine konkrete detailgetreue Wirklichkeit, wenn auch eine, die ebenso unfassbar ist. Manchmal gnadenlos, manchmal aber auch verführerisch: eine burleske Welt voller Komik und Sinnlichkeit.

Unser aktuelles Projekt DIE KINOGÄNGE DES FRANZ K. oder RICHARD UND SAMUEL IN BEWEGUNG hat am 13.12. um 20 Uhr im Ballhaus Ost Premiere.

Ein Projekt, das sich ebenfalls als Kinobesuch an der Seite Kafkas versteht, aber diesmal im wörtlichen Sinn, hatte am 27.Okt. im KINO UNION Premiere: